Am 30. Juni 2013 um 6:21 Uhr morgens hat Melissa unseren Sohn Léon zur Welt gebracht. Dies ist mein Bericht des großen Ereignisses, der neun schlimmsten Stunden und der schönsten Momente meines Lebens.
Als ich am Samstag, den 29. Juni, morgen aufwachte, dachte ich nicht im Traum daran, dass wir 24 Stunden später zu dritt sein würden. Alles war so normal, wie es im 9. Schwangerschaftsmonat sein kann. Nach einem faulen Morgen und Mittagessen im Restaurant (chinesisch, ‘à volonté’) gingen wir nachmittags ins Thermalbad nach Royat. Als wir nach zwei Stunden Planschen, herumalbern und mit Wasserdüsen spielen aus dem Wasser kamen, stellte Melissa fest, dass wir vielleicht besser ins Krankenhaus gehen sollten, einen Gynäkologin oder Hebamme zu sehen.
Wir fuhren zuerst nach Hause, und dort bekam Melissa intervallartige Rückenschmerzen. Zum Glück hat sie von uns beiden ihren kühlen Kopf behalten, dies als potentielle Wehen interpretiert, und mir gesagt, alle notwendigen Sachen für die Entbindungsstation zu packen. Daraufhin habe ich hektisch Kleidung, Laptops, Unterlagen und Zeugs in meinen Rucksack gequetscht, Fenster geschlossen, verwertbare Reste aus dem Kühlschrank in eine Tüte geworfen, so gut wie möglich den Abwasch gemacht, und zwischendurch ein paar Bissen Baguette mit Fourme d’Ambert in mich hinengestopft.
Melissa hatte alles Notwendige für sich und das Neugeborene schon vor einigen Wochen ordentlich in Carmen’s Tasche gepackt.
Per Auto ging es dann nach hinauf nach Beaumont, und falls es bis dahin falscher Alarm gewesen sein sollte sorgte spätestens jetzt die holprige Straße zur Klinik zum Einsetzen der Wehen. Wir gingen in die Geburtsabteilung, wo die diensthabende Hebamme (sage-femme) Maryline bei Melissa eine Weitung des Muttermundes von 1 cm festgestellt wurde. Die Anfangsphase der Geburt hatte begonnen.
Wir verließen den Kreißsaal, um diese Phase in ihrem Zimmer in der Frauenabteilung zu verbringen. Dort bekam ich eine Liege. Nach etwa einer Stunde kamen die Wehen dann in regelmäßigem Abstand, alle 3-5 Minuten, und waren sehr schmerzhaft. Das sollte die nächsten 5-6 Stunden so bleiben, allerdings mit zunehmenden Schmerzen. Melissa hatte bereits lange vor der Geburt beschlossen, ohne Periduralanästhesie auskommen zu wollen.
Ich fühlte mich zunehmends hilfloser. Außer Hānddrücken, etwas zu trinken geben, ihr Gesicht und Hals befeuchten, konnte ich nicht viel tun. Sie fühlte sich hundemüde und wollte nichts lieber als ein wenig schlafen, was die stetigen Kontraktionen aber verhinderten. Massieren oder umarmen ging meistens auch nicht, weil jede zusätzliche Bewegung die Schmerzen verstärkten. Heiß duschen half etwas, und Melissa verbrachte einige Zeit unter der Dusche. Schließlich legte ich mich etwas hin zum Schlafen, mi Schuldgefühlen, meine Freundin alleine leiden zu lassen.
Gegen halb drei Uhr nachts wurden die Schmerzen so stark, dass ich die Hebamme rief, die Melissa endlich in den Kreisaal zurückbrachte. Dort ging es aber erst mal so weiter wie bisher. Ab und zu kam Maryline herein zur Untersuchung. Die Schmerzen wurden schlimmer. Ich spielte auf dem iPad etwas beruhigende Musik, Dvoraks 8. Sinfonie.
Eine weitere Untersuchung, gegen fünf Uhr, ergab eine fast komplette Weitung der Muttermundes. Die Endphase der Geburt, die Austreibungsphase (‘expulsion’) konnte beginnen. Melissa bekam den starken Drang, zu ‘drücken’. Leider hatte sich das Baby noch nicht gedreht, der Kopf schaute noch nach oben. Melissa drehte sich herum auf alle Viere, und ich bekam den Auftrag, ihren Rücken mit den Daumen zu pressen bei jeder Kontraktion. Ich musste mich dazu zwingen, da sie größere Schmerzen als zuvor hatte, und ich nicht wusste, ob ich ihr Leiden nicht noch verstärke. Maryline vesuchte mitzuhelfen, den Kopf zu drehen. Diese Phase der Stagnation erschien mir kein Ende zu nehmen. Melissa fand kaum Momente der Ruhe und Entspannung zwischen den Wehen, ihre Beine taten ihr weh. Bisweilen saß ich hinter ihr im Bett, so dass sie sich an mich lehnte. Inzwischen war Dvorak zu Ende, und die schöne Müllerin folgte. Die war mir etwas unruhig, ich streckte mich, um zum iPad zu greifen, was aber Melissa Schmerzen verursachte. Daher lies ich die Musik weiterlaufen.
Diese Lage des Babys mit Kopf nach oben (hintere Hinterhauptslage) ist nicht sehr häufig. Dies erklärt auch die anfänglichen Rückenschmerzen. Glücklicherweise lasen wir erst hinterher, dass diese Lage des Babys schmerzhafter als normal abläuft.
Schließlich war es aber doch so weit, gegen 6 Uhr hatte sich das Baby in die richtige Position gedreht, zu Schuberts Schwanengesang. Melissa konnte den Kopf des Babys mit der Hand fühlen, und Mut für die letzte Phase fassen. In Seitenlage drückte sie, so stark sie konnte. Dies war, wie sie mir im Nachhinein erzählte, die Phase der größten Schmerzen. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft und Energie nahm. Unter Schreien, Fluchen, und Gestikulieren, aber ohne einzige Träne in ihren Augen, gebar sie den Kopf des Babys.
Das Schlimmste war überstanden. Erst die eine, dann die andere Schulter folgten, und der Rest flutschte heraus. Nach ein paar Momenten kam der erste Schrei des Babys. Es durfe sofort auf Melissas Brust in ihre Arme, die das glücklichste und erleichterste Lächeln seit einiger Zeit zeigte. Fischer-Dieskau war der Winterreise angelangt. Die Schwester nörgelte ein wenig, dass wir immer noch keinen Namen festgelegt hatten (“on va mettre ‘bébé X’ où quoi?”). Wir entschieden uns daraufhin für Léon.
Dann kam die Nachgeburt, die Plazenta. Ich warf kurz einen Blick drauf. Ohne ins Detail gehen zu wollen, stellte ich erstaunt fest, wie groß das Ding war. Schließlich wurde die Nabelschnur durchgeschnitten, und das Baby zur ersten Untersuchung in einen anderen Raum gebracht. Ich durfte die Schwester dorthin begleiten. Léon wurde ein wenig am Kopf abgeschubbt, gewogen, und gemessen, mit Namensschildchen versehen, und dann zur Mutter zurückgebracht.
Wir durften zwei Stunden im Kreißsaal bleiben. Dann wurde Léon angezogen (ich durfte tollpatschig helfen), und in die Krippe, sein Bettchen für die nächsten fünf Tage, gelegt. Ich schob ihn hinter Melissa her zurück ins Zimmer. Nach kurzer Zeit waren beide tief und fest am Schlafen.
Nachtrag: Melissa’s Bericht der Geburt ist hier (in englisch). Ich habe diesen Blogeintrag verfasst, ohne ihren Bericht gelesen zu haben. Anscheindend habe ich doch das meiste intuitiv richtig gemacht, und ich bin überaus froh, dass ich sie so unterstützen konnte.